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Respire (Breathe) - Ein Meisterwerk

Die 17-jährige Schülerin Charlie ist verschlossen und nachdenklich. Nur schwer lässt sich erkennen, was ihre Konflikte und Wünsche sind. Sie wird aber auch nicht so dargestellt, als wäre sie das einsame Mobbingopfer oder die schrullige Außenseiterin. Eigentlich wirkt sie wie eine empfindliche und strebendende Chucks tragende Teenagerin mit überschaubarem Freundeskreis und eher durchschnittlichen Problemen in der Familie und in der eigenen Seele. Sie dient als Identifikationsperson. Die Perspektive, die der Film einnimmt, ist ihre. Dann trifft sie auf die Neue in der Klasse und es entsteht eine Freundschaft, die schließlich in manischen Zügen innerlich brodelnde Gefühle nach außen kehrt, die sogleich wieder von außen her unterdrückt werden. Dabei entsteht eine Art Unterdruck, eine Gefühlsanspannung, die sich wie eine schwere Atmung beklemmend im Brustkorb niederschlägt. Ein wiederkehrendes Motiv des Films ist die asthmatische Atmung Charlies.

Mit zittrigen, abwechselnd warmen und kalten Bildern nutzt der Film seine Hauptdarstellerin als Projektionsfläche für die eigenen Gefühle und Nöte der Zuschauer und umkreist dabei zugleich das Innenleben dieses undurchsichtigen Mädchens. Es ist die physische und emotionale Handlungslosigkeit Charlies, die in Anbetracht der Ereignisse für ein unangenehmes Gefühl sorgt. Mit zusammengepressten Lippen, schweigsam wird heruntergeschluckt, auf was zu reagieren wäre. Eigentlich ist die Hauptperson, der Held im Film, derjenige Charakter, der von der Welt vor konfliktauslösende Ereignisse gestellt wird. Diese Konflikte können sich im Inneren oder Äußeren zutragen und sind vom Helden zu lösen. In Respire werden sie allerdings radikal ausschließlich ins Innere verlagert, wo sie ungelöst und unbearbeitet verweilen. Diese Anstauung, in der defizitären Atmung ihr Symbol findend, betont zugleich einen kaputten und keuchenden Weltbezug im Allgemeinen: ein Ungleichgewicht zwischen innerer und äußerer Welt. Das ist grundlegend und tragisch und lässt sich nur schwer mit Worten fassen. Denn es ist die auf die Spitze getriebene Reibung zwischen Seelenleben und äußeren Umständen, der scheiternde Ausdruck und die Unmöglichkeit einer Formalisierung überhaupt. Ein solcher Zustand kann sich in ungeheuerlicher Weise explosiv entladen und fordert eine Art Korrektur der Verhältnisse durch Vernichtung.

Respire ist ein Meisterwerk, weil er auf filmischer Ebene wiederspiegelt und einfängt, was als zernagendes Ungleichgewicht in der Hauptdarstellerin brodelt und die Druckempfindung emotionaler Repression samt ihrem infernalen Ausbruch nachfühlen lässt. Das ist expressives fühlendes Kino und dabei beinahe unbarmherzig gegenüber den Zuschauern in seiner eindringlichen Aufrichtigkeit. Respire ist eine Erfahrung sondergleichen.